Åsne Seierstad: Einer von uns

  „Das Böse kann einen Menschen töten, aber es kann niemals ein Volk erobern.“ (Jens Stoltenberg, norwegischer Ministerpräsident)

Thema und Inhalt dieses Buches sind nur sehr schwer erträglich. Die ersten Seiten, die einige Minuten des Massakers vom 22. Juli 2011 auf der Insel Utøya im Sommercamp der norwegischen Arbeiterpartei-Jugendorganisation AUF vorwegnehmen, haben mich an meinem Lese-Vorhaben zweifeln lassen. Und es wird noch schlimmer, denn wenn man knapp 300 Seiten später zum minutiösen Ablauf dieses apokalyptischen Tages gelangt, kennt man Namen und Biografien einiger Opfer. Trotzdem entwickelt das erzählende Sachbuch der norwegischen Journalistin Åsne Seierstad über den rechtsextremen Massenmörder Anders Behring Breivik und einige seiner Opfer einen ungeheuren Sog, dem ich mich nicht entziehen konnte und schnell auch nicht mehr entziehen wollte.

Eine Entdeckung auf der Frankfurter Buchmesse
2002 habe ich durch Åsne Seierstads Bestseller Der Buchhändler aus Kabul Einblicke in eine für mich fremde Welt bekommen. Erst bei einem Bloggertreffen anlässlich der Frankfurter Buchmesse 2019 im Norwegen-Pavillon bin ich ihr wieder begegnet, als sie sehr engagiert über ihr im Original bereits 2013, auf Deutsch 2016 erschienenes, 2018 mit dem Leipziger Buchpreis zur Europäischen Verständigung ausgezeichnetes Buch Einer von uns berichtet hat. Interessant fand ich vor allem ihren Ansatz, neben die Biografie des Täters auch die einiger seiner Opfer zu stellen. Außerdem ich habe ich sofort die Parallele zum ebenfalls anwesenden Simon Stranger gesehen, dessen auf Fakten basierenden Roman Vergesst unsere Namen nicht ich gerade mit großer Begeisterung gelesen hatte. Auch darin geht es um Opfer und einen Täter, den norwegischen Kriegsverbrecher Henry Oliver Rinnan, mit der Fragestellung, wie ein Mensch zum Monster wird.

Viel mehr als eine Dokumentation über Breiviks Terroranschlag
Sowohl nach dem Terroranschlag vom 22. Juli 2011 im Regierungsviertel in Oslo und auf der Insel Utøya mit 77 Toten sowie zahlreichen Verletzten als auch während der Gerichtsverhandlung 2012 berichtete die Auslandkorrespondentin und Kriegsreporterin Åsne Seierstad für Newsweek erstmals aus ihrem Heimatland. Im Anschluss daran wollte sie „tiefer graben“, las das 1500-Seiten-Manifest Breiviks, seine Blog-Einträge, Akten des Jugendamts, Vernehmungsprotokolle und Briefe und führte Interviews mit seinen Eltern, Freunden, Klassenkameraden, Kollegen und früheren Parteigenossen. All dies wurde zur Grundlage ihrer detaillierten Biografie über den 1979 geborenen Rechtsterroristen, der sich aus der Mitte der Gesellschaft heraus selbst radikalisierte und zum kalt kalkulierenden, seine Opfer sorgsam auswählenden Massenmörder wurde. Sie schildert Breiviks Weg vom Kind aus desolaten Familienstrukturen zum Außenseiter und Verlierer, der stets um Anerkennung bemüht war, diese aber weder zuhause noch außerhalb erfuhr. Seierstads objektive Beobachterrolle ohne Sensationshascherei hat mir sehr gut gefallen, sie wertet und rechtfertigt vor allem nicht. Sehr empathisch sind dagegen die Biografien ausgewählter Opfer, alle politisch in der Arbeiterpartei engagierte Jugendliche, die aufgrund von Gesprächen mit Hinterbliebenen und Überlebenden entstanden. Wichtig war dabei für mich ein Hinweis im lesenswerten Nachwort: „Keine der Eltern hatten Einwände dagegen, dass ich den Tod des Kindes beschrieb.“ Knapp 300 Seiten handeln von der Zeit vor dem Attentat, 150 Seiten vom Tag des Attentats mit der schier unfassbaren Verkettung von Pannen, Koordinationsfehlern und Fehleinschätzungen auf Seiten der Polizei, 70 Seiten vom Prozess und der Hauptfrage nach der Zurechnungsfähigkeit Breiviks und 30 Seiten vom Leben der Hinterbliebenen und Überlebenden danach sowie vom Häftling Breivik. Daneben ist das Buch aber auch ein Kompendium der norwegischen Politik und Gesellschaft ab den 1970er-Jahren.

Ein Appell
Åsne Seierstad stellt ihrem Buch einen Auszug aus Hjalmar Söderbergs schwedischem Klassiker Doktor Glas von 1905 voraus, der genauso zu Einer von uns wie zu Vergesst unsere Namen nicht passt:

Man will geliebt werden, mangels dessen bewundert, mangels dessen gefürchtet, mangels dessen gehasst und verachtet. Man will irgendein Gefühl in den Menschen wecken. Die Seele schreckt vor der Leere zurück und sucht um jeden Preis Kontakt.

Ich habe Åsne Seierstads hervorragendes Buch als Appell an uns alle gelesen, zu verhindern, dass die Kontaktaufnahme wie bei Breivik und Rinnan mittels Terrors erfolgt.

Åsne Seierstad: Einer von uns. Aus dem Norwegischen und Englischen von Frank Zuber und Nora Pröfrock. Kein & Aber 2016
keinundaber.ch

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